Beitrag: “Engel auf vier Pfoten”, aus dem Buch:
“Begleiter in bewegter Zeit”, 2008 (Ulrike Sänger)

Tiergestützte Begleitung im Hospiz – erste Erfahrungen und Ausblicke

Ich stand im Türrahmen des Zimmers von Frau Seidler, als Angela mit ihrem Schäferhundmischling Filou, einem 4-jährigen ausgebildeten Therapiebegleithund, das Zimmer betrat.

Frau Seidler lag im Bett am Fenster, ihr Atem rasselte bei jedem Atemzug. Frau Seidler war schon lange Patientin der Demenzstation des Bonner Altenheims. Die 90-jährige Dame hatte sich vor rund zwölf Monaten aus dem geistig aktiven Leben ganz in sich zurückgezogen und lag in einer Art permanenten Dämmerschlaf alleine Tag für Tag in ihrem Zimmer.

Dort wurde sie von Angela einmal pro Woche besucht. Angela kannte Frau Seidler noch aus Zeiten, als sie im Rollstuhl saß und im Tagesraum an den Mahlzeiten teilnahm. Damals hatte Frau Seidler ihr berichtet, daß sie selbst jahrelang einen Berner Sennenhund hatte.

Angela bewegte sich auf das Bett von Frau Seidler zu und setzte sich auf einen Stuhl an ihre Seite. Mit einer flachen Handbewegung deutete sie Filou an, er solle sich legen, was dieser sofort verstand. Angela nahm die Hand von Frau Seidler in ihre, sah ihr ins Gesicht und verharrte einen Moment schweigend neben der Seniorin. Frau Seidler atmete schwer und röchelnd. Plötzlich bäumte sich der Oberkörper der alten Dame auf, sie rang um Luft und machte eine verzweifelte Bewegung mit ihrer Hand.

Angela deutete Filou mit einer führenden Geste seinen Einsatz an. Filou sprang auf das Fußende des Bettes und robbte vorsichtig am Körper der alten Dame entlang nach oben. Filou sah Angela an, die sein Verhalten nickend bestätigte. Ohne ein weiteres Zeichen legte der Hund seine Pfote auf die alte, kleine, knöcherne Hand und Angela zog ihre Hand darunter langsam heraus. Filou legte seinen Kopf auf den Brustkorb von Frau Seidler. Er sah Angela dabei fragend an, die ihn wiederum nickend bestätigte.

Plötzlich schien sich die Verschleimung in den Atemwegen von Frau Seidler zu lösen. Sie wurde ruhiger, atmete leichter. Das Rasseln und Röcheln ließ nach. Der Hund hatte seine Pfote immer noch auf der Hand von Frau Seidler liegen, sein Kopf lag auf ihrem Brustkorb, sein Blick wich nicht von seiner Hundeführerin. Frau Seidler entspannte spürbar, ihr Atem wurde ruhig und regelmäßig, er brodelte noch ein wenig, hörte sich aber längst nicht mehr so bedrohlich an.

In dieser Stellung verharrte der Hund ungefähr drei Minuten, vielleicht ein wenig kürzer, vielleicht ein wenig länger. Das ist schwer zu sagen, denn ich dachte in diesem Moment ohnehin, die Zeit bleibe stehen. Dann erhob Filou seinen Kopf und sah Angela fragend an. Sie nickte ihm freundlich zu und er sprang vorsichtig vom Bett. Angela berührte noch einmal sanft den Arm von Frau Seidler und verließ leise mit Filou den Raum.

Zwei Mitglieder unserer Ausbildungsgruppe, die das Geschehen vom Türrahmen aus beobachtet hatten, fingen spontan an zu weinen, niemand konnte ein Wort sagen. Tief berührt und dankbar, Zeuge dieser Einheit dreier Lebewesen gewesen sein zu dürfen, verließen wir schweigend die Demenzstation. Filou lief schwanzwedelnd vor uns her.

Ein Engel auf vier Pfoten, der für heute auf dieser Station genug getan hatte.


Dieses Erlebnis setzte den Grundstein meiner Begeisterung für die Begleitung schwerkranker Menschen mit Tieren. Meine sanfte Schäferhündin Hezhra wurde von nun an zum Therapiebegleithund ausgebildet. Von Januar bis März 2005 setzte ich sie erstmalig im Rahmen eines Pilotprojektes im Hospiz am Bonner Waldkrankenhaus ein. Pflegedienstleitung, Pflegepersonal und der ambulante Hospizdienst, bei dem ich zuvor eine Ausbildung zum ehrenamtlichen Hospizhelfer gemacht hatte, standen der tiergestützten Arbeit sehr offen gegenüber.

Meine ersten Besuche begann ich meist im „Wintergarten“ (Tagesraum des Hospizes). Um die Hündin an die Räume des Hospizes zu gewöhnen, gingen wir auch die Flure der verschiedenen Stationen ab. An diesem Samstagnachmittag stand die Tür eines Zimmers am Ende des Korridors einen Spalt offen. Hezhra betrat zielstrebig dieses Zimmer, obwohl uns vom Pflegepersonal keine Mitteilung gemacht worden war, ob der Gast, der dort wohnte, überhaupt einen Hundebesuch wünschte.

Ich lief also hinter Hezhra her, um sie mit einer Entschuldigung aus dem Zimmer zu holen. Im Bett lag, halb sitzend mit aufgestelltem Kopfteil, ein grauhaariger Mann um die fünfzig mit flinken, braunen Augen. Ich stellte mich vor, entschuldigte das Verhalten meines Hundes und erklärte ihm, daß wir vom Tierbesuchsdienst seien und auf Wunsch der Gäste in ihre Zimmer kämen. Herr Busch meinte, wo wir nun schon mal da seien, könnten wir ja ruhig bleiben und er begann sofort sehr offen mit mir über seinen herannahenden Tod zu sprechen.

Er sei aktiver Sportler gewesen, sein Körper, seine Muskeln, all das habe immer Priorität in seinem Leben gehabt. Ganz plötzlich habe der Krebs ihn ereilt und ihm seine Fähigkeiten genommen. Beim Nordic Walking auf dem Heiderhof sei er zusammengebrochen und von da an sei es rapide mit ihm bergab gegangen. Nun liege er hier und ich solle ihm sagen, ob er aussehe wie ein Sportler. Ich war erschüttert: Da platzte mein Hund zu diesem wildfremden, sterbenden Menschen ins Zimmer und ehe ich mich versah, wurde ich in ein so ernsthaftes Gespräch über den bevorstehenden Tod dieses Mannes verwickelt. Es blieb mir keine Zeit darüber nachzudenken, was ich in der Ausbildungsgruppe für eine solche Situation gelernt hatte. Hilfe suchend schaute ich zu meiner Hündin, die ein wenig entfernt vom Bett ruhig schlafend auf dem Boden lag. Sie hatte nicht einmal versucht zu Herrn Busch Kontakt aufzunehmen. Ich schaute den Mann an und beschrieb ihm, was ich sah. Ich sagte ihm, daß ich unglaublich flinke Augen sähe, die mir mitteilten, was er für ein starker und kräftiger Mensch sei, der es gewohnt sei zu kämpfen und alles zu geben. Ich sagte ihm, daß ich ahnte, was Schwächen und Niederlagen für ihn bedeuteten und daß ich sicher sei, nur mit seinem Sportlergeist würde er die letzte Etappe dieses Marathons schaffen – aber er werde es schaffen.

Der Mann strahlte mich an und nickte zu meinen Worten, dann seufzte er und sank müde in sein Kissen zurück. Er hatte sicherlich fünfzehn Minuten ununterbrochen mit mir gesprochen. Ich teilte ihm mit, daß ich nun gehen werde. Hezhra stand auf, als habe sie jedes Wort verstanden und ging zur Tür, ohne von Herrn Busch Notiz zu nehmen. Herr Busch sagte mit kräftiger Stimme: “Besuchen Sie mich bald wieder mit ihrem Hund.“ Ich versprach es.

Als ich wieder auf dem Flur stand, sortierte ich erst einmal meine Gedanken. Was war denn das für eine tiergestützte Begleitung gewesen, die mein Hund komplett auf dem Fußboden schlafend verbracht hatte? Hezhra hatte lediglich die Tür zu diesem Zimmer geöffnet, sie hatte mich zu Herrn Busch geführt, der auf Anfrage andernfalls vermutlich einen Tierbesuch abgelehnt hätte. Ich war mir plötzlich sicher, daß Hezhra genau gespürt hatte, was Herr Busch in diesem Moment gebrauchte hatte.

Hezhra hatte als Engel auf vier Pfoten einen wertvollen Einsatz gehabt.

Einige Wochen später warteten Hezhra und ich wieder im Wintergarten darauf, daß das Pflegepersonal uns mitteilt, in welchem Zimmer ein Tierbesuch gewünscht wird. Eine Frau Mitte vierzig kam, um sich eine Tasse Kaffee zu holen und ging auf Hezhra zu. Tieftraurig wirkend fragte sie mich mit leiser Stimme, ob das der Therapiehund sei, von dem sie schon gehört habe. Sie teilte mir mit, daß ihre Mutter Hunde schon immer sehr gerne hatte und sich über Hezhras Besuch sicher freuen würde.

Wir folgten der Tochter ins Zimmer von Frau Duch, welches am Ende des Ganges lag. Die Sonne durchflutete den mit sehr vielen persönlichen Gegenständen ausgestatteten Raum. Im Bett lag eine winzige, abgemagerte Person, um deren kahlen Kopf ein Handtuch zu einem Turban gewickelt war. Die Tochter erklärte ihrer Mutter, sie habe einen Hund mitgebracht, woraufhin Frau Duch mit leiser, piepsender Stimme zu Hezhra sagte: „Auf dich habe ich schon soooo lange gewartet.“ Hezhra stellte sich mit den Vorderläufen am Bettgitter auf und Frau Duch streichelte das Fell des Hundes.

Über das Gesicht der Tochter huschte ein Lächeln. Hezhra schien Frau Duch noch näher kommen zu wollen, aber das Absperrgitter hinderte sie daran. Hezhra sah mich an und ich machte eine Handbewegung zum Stuhl, welcher direkt neben dem Bett stand. Ich wollte, daß Hezhra sich auf diesen Stuhl setzt, doch sie nahm ihn nur als Absprungbrett und legte sich mit einem galanten Sprung bäuchlings auf das Bett der alten Dame. Ich erschrak zu Tode, doch Frau Duch sagte nur fröhlich: „Huups, das ist ja wie bei der Großmutter und dem Wolf.“ Daraufhin lachten die Tochter und die Mutter so herzlich und befreiend, daß ich einfiel und die Stimmung in diesem Zimmer plötzlich viel gelöster empfand. Ich hatte das Gefühl, Tochter und Mutter hatten schon lange nicht mehr gemeinsam so herzlich gelacht.

Engel auf vier Pfoten können Menschen in ausweglosen Situationen Trost spenden und manchmal sogar zum Lachen bringen.

Das dreimonatige Pilotprojekt war ein voller Erfolg und ich überlegte mit allen Verantwortlichen, daß es schön wäre, im Hospiz einen festen Tierbesuchsdienst von Ehrenamtlichen mit ihren jeweiligen Haustieren zu etablieren. Im Anschluß an ein von mir durchgeführtes Seminar über tiergestützte Begleitung im Hospiz meldeten sich vier Hundebesitzerinnen zu einer zwanzigstündigen Fortbildung bei mir an.

Alle Teams bestanden den Eignungstest und die Abschlußprüfung. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin vom Hospizverein Bornheim gesellte sich mit ihrem Hund zu uns und von Januar bis März 2006 starteten wir mit diesen frisch ausgebildeten Teams ein neues Tierbesuchsdienstprojekt. Es war für mich eine Freude, die so ganz unterschiedlichen Teams bei ihrer Arbeit zu begleiten. Die Temperamente der Hunde variierten stark, aber jedes Team hatte etwas Besonderes.

Inzwischen teilen sich fünf Engel auf vier Pfoten den Tierbesuchsdienst und erfreuen die Gäste des Hospizes. Manche sind langhaarig, manche haben kurzes Fell. Sie sind rehbraun, schwarz oder gefleckt und sie haben alle eine wichtige Aufgabe übernommen: Sie begleiten Sterbende und ihre Angehörigen.

Wenn zum menschlichen Leben Tiere dazugehören und „Sterben“ gelebtes Leben bis zuletzt bedeutet, dann dürfen Tiere im Hospiz nicht fehlen. Manchmal brauchen wir sie – die Engel auf vier Pfoten!


Zitat Zitat - Pfote

Hunde haben alle guten Eigenschaften der Menschen,
ohne gleichzeitig ihre Fehler zu besitzen.

Friedrich der Große